Margareta Friesen
Tim von Veh
Theatrum Mundi
– Der Raum als Arabeske –
Unter dem Titel „Theatrum Mundi“ stellt Tim von Veh seit November 2010 Radierungen aus, die er in Form von Collagen an Wände und Decken, auf Leinwände und Papier appliziert. Eindeutig spielt er inhaltlich damit auf Pedro Calderón de la Barcas Bühnenstück „El Gran Teatro del Mundo“ (1) an, in dem nach dem antiken Topos die Welt als Bühne, das Leben als Spiel dargestellt wird. Die Figuren und Requisiten, die von Veh sich für sein Theater und seine Scheinräume erschafft, sind äußerst vielfältig und umfassen antikisierende und barockisierende Figuren, Porträts lebender Personen, florale und geometrische Ornamente sowie vielerlei Zierbänder, ja sogar Guillochen. Bei ihnen handelt es sich um eine besondere Form von Verzierung, die aus mehreren ineinander verflochtenen und überfließenden parallelen Linien besteht und zumeist asymmetrische Ellipsen oder Kreise bildet.
Mit Guillochen werden Wertpapiere und Geldscheine verziert, um Fälschungen vorzubeu-gen. Es ist nicht ohne ein verschmitztes Augenzwinkern, dass sich Tim von Veh mit Vorliebe alter Wertpapiere und der Guillochen als Inspirationsquelle bedient, ist ihm doch klar, wie sehr die Kunst gegenwärtig als Aktie in den allgemeinen Fokus gerückt ist, wenngleich sein Ansatz in erster Linie die Bewunderung für diese Kleinodien und Sammlerstücke darstellen soll.
Jede collagierte Wand- oder Deckengestaltung ist eine einmalige Installation und exemplarisch für die Arbeitsweise des Künstlers.
Es sind in situ Werke, im Gegensatz zu den transportablen auf Leinwand oder Papier. Von weitem betrachtet erwecken sie den Anschein von Zeichnungen oder Malereien, sie erinnern an Fresken oder die alte Technik des Sgraffito.
Erst beim näheren Herantreten und genaueren Hinsehen erschließt sich die Handhabung der Tiefdrucke: Sie sind zurechtgeschnitten und collagiert, je nach den besonderen Bedingungen vor Ort an Wände oder Decken geklebt. Der Künstler entpuppt sich als begnadeter Drucker und Maler. Da sie auf besonderen, langfasrigen Papieren gedruckt, zudem je nach Bedarf zugeschnitten werden, kann von Veh sie sehr vielseitig einsetzen. Vor allem schneidet er bereits die Druckplatten selbst in die den Figuren und Ornamenten entsprechende Formen.
Der Tiefdruck - prachtvolles Medium
Die Radiertechnik wird auch als Ätztechnik bezeichnet. Der Künstler verwendet Kupfer-platten als Druckplatten. Kupfer oder Zink eignen sich deshalb besonders gut, weil sie sich zerkratzen und ätzen lassen. Die Kupferplatte wird mit einer Art flexibler Lackschicht, dem Ätzgrund, beschichtet, auf die der Künstler seine Zeichnung mit der Radiernadel oder unterschiedlichen anderen Werkzeugen ritzt. Anschließend wird die Platte in ein Säurebad gelegt, wobei nur die geritzten also verletzten Stellen der Lackschicht durch die Säure angegriffen werden. Es entstehen tiefe Furchen. Anschließend wird die Platte abgespült und die gesamte Lackschicht entfernt, worauf die Druckplatte mit Druckfarbe eingefärbt wird. Das geschieht mit einem Lappen, damit die Farbe tief in die geätzten Rillen eindringen kann. Danach wird die glatte Oberfläche sorgfältig abgewischt und gereinigt. Nur in den Vertiefungen bleibt die Druckfarbe haften. Durch Aufpressen des angefeuchteten Papiers wird die Farbe aus den Rillen wieder herausgesaugt und erscheint dadurch auf dem Papier, daraus leitet sich der Begriff Tiefdruck ab.
Die so auf dem Papier entstandene farbige Zeichnung, aus der Tim von Veh das spätere Collagen-Fresko gestaltet, ist die positive Form, die er als Negativform in die Platte geätzt hat. Überdies belässt er die Platten nicht im einmal geätzten Zustand. Platten, von denen einmal gedruckt wurde, werden immer wieder überarbeitet und erhalten zusätzliche Ätzungen. Es entstehen fortgesetzt neue „Zustandsdrucke“ Tim von Veh bleibt beinahe niemals beim ersten Zustandsdruck. Mit Begeisterung betreibt er das Tiefdruckverfahren und hat die größte Freude an der kontinuierlichen Entfaltung und Weiterentwicklung der Ornamente und Figuren. Die Druckplatte ist für ihn nicht eine von vielen Ausdrucksmöglichkeiten, sie ist sein Ausdrucksmittel, sein bevorzugtes Medium.
Die Radierkunst geht auf das Handwerk der Gold- und Waffenschmiede des 15. Jahrhunderts zurück. Beim Herstellen kostbarer Waffen wurde die Technik angewendet, um Modellzeichnungen auf Papier festzuhalten. Albrecht Dürer war zunächst Lehrling in einer Goldschmiedewerkstatt gewesen und hat in der Folgezeit als eigenständiger Künstler die Radierung zur Vollendung gebracht. In den Jahrhunderten danach nahm die Radierkunst eine unglaublich variantenreiche Entwicklung. Alle bedeutenden Künstler von Heinrich Aldegrever über Hendrick Goltzius, Giovanni Battista Piranesi. Francisco de Goya bis Pablo Picasso haben hervorragende Radierungen angefertigt. Wohl wurden schon im 16. Jahrhundert als Votivgaben in Kirchen Radierungen direkt auf die Wand geklebt, auch in englischen Schlössern hat man Radierungen von Piranesi direkt auf den Wänden befestigt, doch im 20. Jahrhundert ist mir diese Praxis, wie Tim von Veh sie anwendet, nicht bekannt. Er gestaltet Wände und Decken mit seinen Radierungen so, dass sie die Räume gleichsam als mehrdimensionales Gemälde erscheinen lassen. Die Integration der collagierten Drucke in die sie umgebende Architektur ergibt das „Gesamtbild“ und damit einen Scheinraum. Er erschließt sich nur im Begehen, also in der Bewegung. Man muss sich sogar körperlich anstrengen, indem man den Kopf weit in den Nacken legt, um die Kompositionen an der Decke zu betrachten. Tim von Veh geht mit seinen Radierungen um, als handele es sich um seine „Palette“ Sein Verfahren die einzelnen ausgeschnittenen Teile zu collagieren, ermöglicht ihm, sie wie Zeichnungen oder Wandmalerei einzusetzen und solchermaßen mit ihnen zu jonglieren. Mit Hingabe – ich vermeide absichtlich das Wort Liebe, obwohl es richtiger wäre – und Freude an jedem Detail schafft er einzigartiges „Welttheater“.
Einerseits arbeitet er klassisch, indem er die traditionelle Radierung anfertigt, andererseits setzt er sie aber so ein, wie es neu und unüblich ist. In der Installation „Oszillation I“ kommt eine weitere technische Variante hinzu: bestimmte Motive sind auf so dünnem und durchscheinendem Papier gedruckt, dass er sie sowohl vorderseitig als auch rückseitig verwenden, sowie übereinander kleben kann. Dadurch entsteht auf der Wand nicht nur ein Flirren zwischen den Formen, zudem wird eine größere Tiefenwirkung suggeriert. Es gibt darüber hinaus eine technische Besonderheit, wie er seine Radierungen verarbeitet: Durch Anfeuchten sind sie von Wand oder Decke wieder abzunehmen. Einmal abgenommen werden sie getrocknet und können erneut an anderer Stelle angebracht werden. Sie werden zu einem recycelbaren Collagen-Fresko ebenso wie zu einem rahmen-losen Gesamtkunstwerk. Man könnte behaupten, dass von Veh in der Art und Weise wie er seine Radierungen auseinandernimmt und neu zusammensetzt, rebellisch, ja subversiv handelt. Wie die Platte, also sein Zeichen-grund, wird ihm der leere, weiße Raum zur Herausforderung, zum „Malgrund“. Ebenso wenig reicht ihm die durch Rahmenleisten begrenzte Bildfläche. Er gestaltet gleich den ganzen Raum zum Bildraum und verwandelt den Betrachter zum Mitspieler in seinem überbordenden Figurentheater.
Hier liegt das Geheimnis der Kunst von Tim von Veh: Wir werden in das Bild hineingezogen und agieren als Teil von ihm, seine Sinnlichkeit wird körperlich erlebt. Gehen wir in einen dieser Räume hinein und schauen uns um, orientieren wir uns primär an Linien und den sich daraus bildenden Flächen. Wir schaffen ein Koordinatensystem, in das wir eine Horizontlinie einziehen. Dadurch beziehen wir unseren Standpunkt zum Gesehenen und bringen uns in das Spiel ein. Erst dann beachten wir die Farbigkeit. Mit den Farben verbinden wir Gefühle. Von Vehs Tiefdruckfarben sind dünnflüssig und zumeist zart. Es sind Pastelltöne, die mit Essbarem assoziiert werden können: Himbeeren, Brombeeren, Speiseeis, helle Schokolade, wir schmecken sie geradezu auf der Zunge. Sie sind ein Augen-schmaus. Die intensiveren Farbtöne wie grelles Orange oder Schwarz-und Grautöne verbinden wir leicht mit Gefahr, Trauer und Krankheit, das lässt vor ihnen zurückschrecken.
Jeder hat sein eigenes Gefühlssystem, wenn es um Farbe geht. Tim von Veh erzeugt mit seiner besonderen Farbigkeit Affekte, mit deren Hilfe die mythologischen und realen Gestalten seines Welttheaters mit uns kommunizieren. Endlich beginnen wir das Bühnebild zu „lesen“ und zu deuten. Wir schauen von links nach rechts, weil wir es in unserer Kultur so gelernt haben. Von unten nach oben schauen wir nicht automatisch, erst durch ein Geräusch oder einen Hinweis wird unsere Aufmerksamkeit auf das Oben gelenkt. Logischerweise beginnen wir uns erst jetzt mit dem Inhalt des Dargestellten auseinanderzusetzen und ordnen es in unser Werte- und Wissenssystem ein. Das alles geschieht intuitiv und blitzschnell. Nun sind wir im Bilde. Oder doch nicht? Würde man unsere Beobachtungen und unsere Äußerungen über Tim von Vehs Theatrum Mundi sorgfältig analysieren, würde man nämlich sehr viel über unsere Eigenheiten und unsere Erfahrungen lernen und sehr wenig über die Bilder selbst. Um das zu begreifen, brauchen wir uns bloß vor die Alternative zu stellen: Schauen wir auf von Vehs Bilderwelt wie von einem Beobachtungsposten aus, sind wir also getrennt von ihr? Oder schauen wir sie an und sind uns dabei bewusst, dass sie ein Teil von uns ist?
Wahrnehmung wahrnehmen
Die klassische Wissenschaft erforschte die Welt in ihrer objektiven, vom Menschen unabhängigen Wirklichkeit. Das war ihr erklärtes Ziel. Der Beobachter selbst, jede subjektive Kontaminierung sollte entfernt werden, um die subjektlose Welt zu entdecken. Der Beobachter sollte passiver Registrator sein. „Objektivität“ lautete das Zauberwort.
Kant in der „Kritik der reinen Vernunft“ stellt dies grundsätzlich in Frage. Für ihn war klar, dass die Struktur des erkennenden Subjekts von vornherein die Struktur der erkannten Gegenstände bestimmt: „Die Farben sind nicht Beschaffenheit der Körper, deren Anschauung sie anhängen, sondern auch nur Modifikationen des Sinnes des Gesichts, welches vom Licht auf gewisse Weise affiziert wird.“ Und weiter: „Geschmack und Farben sind gar nicht notwendige Bedingungen, unter welchen die Gegenstände allein vor uns Objekte der Sinne werden können. Sie sind nur als zufällig beigefügte Wirkungen der besonderen Organisation mit der Erscheinung verbunden.“ Seit Beginn des 20. Jahrhunderts mehrten sich die Zweifel an der vermeintlich objektiven Methode. Die Frage stellte sich, ob es überhaupt möglich ist, den Beobachter selbst auszuklammern. Vor mehr als 100 Jahren haben sich die Wissenschaftler darüber Klarheit verschafft, dass ein Universum, aus dem alles Subjektive verbannt sein würde, eben genau deswegen nicht mehr beobachtet werden kann. Das Subjekt fehlt. Albert Einstein hat als erster begonnen zu begreifen, dass diese gegenseitige Abhängigkeit, nämlich die von Beobachter und beobachteter Welt, eine Tatsache ist, die nie geleugnet werden kann.
Werner Heisenberg entwickelte die Heisenbergsche Unschärferelation, in der er weiter geht als Einstein. Sie besagt, ganz grob gesprochen, dass sich der Ort und die Geschwindigkeit eines Teilchens nicht gleichzeitig exakt bestimmen lassen. Je genauer man das eine kennt, desto größer die Ungewissheit in Bezug auf das andere. Die Quantenphysiker nach dem Zweiten Weltkrieg gehen noch weiter: Erwin Schrödinger, einer der Väter der Quantenphysik, schreibt 1958: „Jedermanns Weltbild ist und bleibt eine geistige Konstruktion; seine Existenz kann in keiner anderen Weise nachgewiesen werden.“ (4)
Sehen ist nicht ein Abdruck in einem neuronalen System. Es ist vielmehr ein stetiges schöpferisches und lebendiges Erzeugen von Bildern. Wir finden das Bild nicht, wir erfinden es. Tim von Veh macht dies in der Art und Weise, wie er mit seinen Radierungen umgeht, sinnfällig und erfahrbar. Seine Bilder gehören zum Raum, der uns umgibt. Wir bewegen uns darin und sind Teil von ihm. Es wird uns nicht so leicht gemacht, seine Bilder mit „Fenstern“ in die Welt zu verwechseln, durch die wir wie von einem Beobachtungsposten aus hineinschauen. Da ich dergestalt im Bild bin, werde ich zugleich in die Position des mitfühlenden, des Anteil nehmenden Beteiligten gedrängt und nicht in die eines außenstehenden Beobachters.
Die Renaissance des Ornaments
Die opulente Verwendung der unerschöpflichen Ornamentformen, die alte Aktien und Geldscheine assoziieren und mit denen Tim von Veh ganze Räume neu erfindet, führt zwangsläufig zur Entlarvung und Infragestellung von Autoritäten des Kunstmarktes und ihrer Normen. Ist denn Kunst reine Ökonomie des Geldes? Ist denn Ornament immer noch Verbrechen? Ist es nicht folgerichtig, wenn Tim von Veh, indem er die Guillochen der Wertpapiere und Geldscheine benutzt, seine Kritik an der herrschenden Praxis zum Ausdruck bringt, Geldwert und Kunstwerk zu koppeln? Dennoch: sein Hauptanliegen ist zuförderst die reine Freude am Spiel mit seinen geistreichen Erfindungen. Unbekümmert stattet er Flure und Esszimmer aus und gestaltet sie zu festlichen Räumen um. Seine Collagen-Fresken bringen Dramatik in den „White Cube und statten ihn mit einzigartigen sinnlichen Reizen aus.
Indem er seine Figuren, Hände und einfallsreichen Zierleisten über Wände und Decken kreuz und quer klettern und fallen, sie in wilder Konfusion und überbordendem Eifer sich entfalten lässt, offenbart er seine rebellische Haltung gegenüber dem Verdikt des Ornaments. Mit Witz und Ironie bezieht er gegenüber den säuberlich gerahmten, Privatmythologien illustrierenden und nicht weniger als betulichen Bildern der neuen Gegenständlichkeit Position.
Das Ornament hat Jahrzehnte auf eine Wiederbelebung und darauf gewartet, aus der Schmuddelecke herausgelassen zu werden. Nun erlebt es in von Vehs Werk eine fulminante Auferstehung und es erfordert an Decken, Wänden, auf Leinwände oder Papier appliziert, die gleiche Aufmerksamkeit wie die Betrachtung eines aufwendig gerahmten Tafelbildes. Aufmerksamkeit verstehe ich als einen philosophischen Begriff, der die Fähigkeit beschreibt, einen seelischen Gegenstand in den Mittelpunkt des Bewusstseins zu rücken.
Von ihr hängt es ab, wie klar und deutlich, wie lebhaft und eindringlich man innere und äußere Erlebnisse aufnimmt. Sie ist Voraussetzung dafür, dass der Strom des Erlebens nicht in kontinuierlicher Gleichförmigkeit durch das Bewusstsein hindurch läuft. Das Werk Tim von Vehs ist wie ein Aufblitzen im gleichförmigen Mainstream der Bilderflut. Es kann zum nützlichen Hilfsmittel, zum Werkzeug für den Wachstums- und Entwicklungsprozess nicht nur des eigenen Sehens werden. Der Betrachter füllt es leibhaftig mit Leben. Er kann es in einen „sprechenden“ Gegenstand verwandeln, und mit ihm in einen Dialog eintreten. Mit Aufmerksamkeit betrachtet, entsteht vor unseren Augen eine Inszenierung, die uns erfreuen und mitfühlen lässt. Sie entfaltet sich aus schwellenden Formen und vielschichtigen Gestalten allmählich zu provokativer Dramatik.